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Im Kokon unserer Moral - und was passiert, wenn Autoren diesen aufbrechen

 

Im Kokon unserer Moral gefangen

Und was passiert, wenn Autoren diesen aufbrechen.

  

Ist es nicht kuschelig und weich da drin? Ganz nach dem Motto: Augen zu. Bettdecke über den Kopf. Den Geist vor allem anderen

verschließen. Wir werden unsere Augen nicht verschließen. Weder als Mensch oder als „Blogger“, noch als Autoren!

Und ich werde das alles auch begründen. Aber wie immer solltet ihr euch erst einmal auf einen meiner gemütlichen muffig-riechenden Sessel setzen, nachdem ihr euch eine heiße Schokolade abgeholt habt. Diesen Post bringen wir auch so früh, weil wir euch damit gleichzeitig die Chance geben, zu gehen. Meine urige Meckerstube ist kein Gefängnis – so wie es auch kein Buch ist!

Kein Buch zwingt euch, weiterzulesen, wenn es euch und eurem Weltbild widerspricht oder Dinge beinhaltet, vor denen ihr euch lieber verschließen würdet!

Aber fangen wir mal etwas früher in unserer Geschichte an …

 

Vor nicht einmal 100 Jahren hatten die Menschen eine ganz andere Moral. Ja, eine grausame und furchtbare Moral. Und natürlich wäre es schön, nur die heroischen Geschichten wie die der Geschwister Scholl zu erzählen. Sie in uns aufzusaugen und uns vorzustellen, ja, uns einzureden, dass wir genauso gehandelt hätten. Natürlich hören wir nicht gerne die anderen Geschichten. Die von den Menschen, die sich nicht gewehrt haben. Die von denen, die mit genau diesen Moralvorstellungen aufgewachsen sind. Sich damit identifiziert haben. Die Geschichten von denen, die sich nicht gewehrt haben, ja, vielleicht sogar mitgemacht haben.

 

Genau 337 Tage bevor der zweite Weltkrieg ausbrach, unterschrieben die Regierungschefs einen Friedensvertrag. Das Münchner Abkommen, das den Frieden sichern sollte. Wie viel Wert die Regierung unter Hitler daraufgelegt hat, hat die europäische Bevölkerung eben diese 337 Tage später zu spüren bekommen. Nicht nur Erwachsene. Nein. Auch Kinder haben die volle Wucht der menschlichen Abgründe am eigenen Leib erfahren.

 

In einer Welt, in der wir uns heute in unserer tollen Gesellschaft, in diesem Kokon zurückgezogen haben – spielen diese Dinge da

keine Rolle mehr? Spielen alle Grausamkeiten, die passiert sind und immer noch passieren, keine Rolle mehr?

Eine Grausamkeit löst die nächste ab, bis die wiederum von einer Scheinwelt abgelöst wird, in der alles in Ordnung ist.

Wir vergessen unsere „Erbsünde“. Sie ist vorbei. Erledigt. Wir waren ja nicht schuld.

Die katholische Kirche ist ja auch nicht Schuld an der Inquisition.

Wir sind ja auch nicht schuld daran, was in Syrien passiert.

Warum also unsere schöne Welt mit Menschen teilen, die vor einem Krieg geflohen sind. Vor dem wirtschaftlichen Aus? Die einen schweren, langen Weg auf sich genommen haben, um ihrer Familie etwas bieten zu können? Überleben bieten zu

können?

Und ja, vielleicht sind wir nicht schuld. Aber wir sind schuld, wenn wir unsere Augen davor verschließen. Unsere und die unserer

Kinder!

 

Ja, es ist so einfach, in einem Kokon zu leben. Sich ab und zu über die Regierung aufzuregen und es uns gleichzeitig in diesem Kokon

gemütlich zu machen. Es ist so einfach, zu verdrängen, was war. Was immer noch passiert. Zu verdrängen, dass Juden immer noch verfolgt werden. Dass Menschen einfach so getötet werden. Dass Mädchen schon in sehr jungen Jahren zwangsverheiratet

werden. Dass Sie gegen ihren Willen beschnitten werden. Dass Kinder Waffen in die Hand gedrückt bekommen, um auf andere Menschen zu schießen. Dass Sekten oder radikale Gruppen Menschen hinrichten. Vergewaltigen. Auf Arten erniedrigen, die wir uns nicht einmal vorstellen können. Nicht einmal in unseren schlimmsten Albträumen.

Und vor allem ist eines einfach: Sich einzureden, dass man selbst der Held in dieser Geschichte wäre. Einer der Geschwister Scholl. Die deutsche Familie, die Anne Frank beschützt hat. Das Mädchen, das sich gegen ihre Familie und ihre Religion stellt und wegrennt. Es ist einfach, hier in seinem gemütlichen Bett zu liegen und ein Buch zu lesen und sich eine Heldin zu wünschen. Und Mädchen, die

schlimme Qualen durchmachen, sich aber nicht wehren können und trotzdem überleben, zu verachten … während unser Leben ja so heldenhaft ist. 

Ja. Das ist einfach. Einfach und anmaßend. Anmaßend zu denken, dass sie keine Helden sind.

Diese Geschichten sind schön. Schöne Lichtblicke in einer finsteren, brutalen Welt. Lichtblicke, die in die Welt getragen werden sollten. Aber auch die andere Seite der Medaille sollte in die Welt getragen werden. Geschichten von Frauen, die in ihrer Gesellschaft

unterdrückt werden und sich einfach nicht wehren können. Auch sie müssen erzählt werden, damit wir aus ihnen unsere Lehren ziehen!

 

Und dann höre ich, dass das keine Geschichten für Jugendliche sind.

Wirklich? … Wirklich? Sollen wir sie etwa blind aufziehen? In einer Welt, die einfach nur ein winziger Bruchteil der Realität ist? Sollten wir ihnen verschweigen, wie grausam die Welt ist? Sollten wir sie blind für alles durch diese Welt gehen lassen?

Nein! Nicht, wenn ihr mich fragt.

 

Und ich werde meinen Kindern niemals verschweigen, was in dieser Welt passiert ist und was immer noch passiert. Werde sie lehren, die Kehrseite unserer Menschlichkeit zu sehen. Sie zu begreifen. Zu begreifen, dass es Menschen auf dieser Welt gibt, die sich nicht wehren können. Oder es nicht wollen, weil sie so aufgewachsen sind. Ich werde ihnen keine rosarote Brille aufsetzen. Werde ihnen keine Bücher vorenthalten, weil sie meiner Moral widersprechen. Genau deshalb, weil sie dadurch stumpf werden würden. Natürlich könnte ich ihnen nur die Heldengeschichten erzählen. Sie Filme wie »die Welle« nicht sehen lassen. Und hoffen, dass sie Helden werden. Starke Menschen, die sich wehren. Aber das werde ich nicht tun.

Ich werde ihnen die Wahrheit zeigen. Denn das ist meine Aufgabe. Ich werde sie mein Leben lang vor dem Bösen in dieser Welt

beschützen. Aber ich werde sie nicht blind dafür machen! Denn es gibt das alles in unserer Welt. Und sie müssen es erkennen und sehen, um es verstehen zu können. Um vielleicht irgendwann richtig zu handeln.

 

Also – sollten auch Fantasy-Jugendbücher genau das aufzeigen? Oder immer nur die Heldengeschichten erzählen?

 

Neulich musste ich für eine Hausarbeit einer Leserin die Frage beantworten, warum ich Dystopien schreibe. Meine Antwort war:

»Der dystopische Anteil in meiner Reihe – und vor allem die Geheimorganisation und die schlechten gesellschaftlichen Strukturen – habe ich mit eingearbeitet, weil die Welt nun einmal nicht rosarot ist. Ich denke, dass selbst unsere Gesellschaft gerade an einem kritischen Punkt steht und ich finde es wichtig, dass Menschen ihre Augen öffnen oder man sie ihnen öffnet, wenn sie es nicht selbst tun. Man sollte die Welt nicht schönreden. Man muss sehen, was passieren könnte. Und alles, was in meiner Reihe geschieht, könnte so eventuell passieren. Wir müssen für uns und unsere Prinzipien einstehen. Uns nicht unterdrücken lassen und nicht wegsehen. Wir sollten hinsehen, was mit uns geschieht. Was mit der Welt geschieht, auf der wir nicht mehr sind als Reisende, die ein Zuhause für einen Stopp bekommen. Genau so sollten wir uns verhalten und immer im Hinterkopf haben, was wir zurücklassen. Von uns und von dem, was uns geschenkt wurde. Und wir müssen gleichzeitig begreifen, dass es eben auch Menschen gibt, die sich nicht wehren

können und unsere Hilfe brauchen!«

 

Also wenn man mich fragt, ob ich weiterhin Jugendbücher schreibe, in denen sich Menschen gegen ein System auflehnen, ist meine Antwort definitiv: Ja!

Und wenn man mich fragt, ob ich auch über Menschen schreibe, die sich nicht oder erst sehr spät zu wehren beginnen, ist meine Antwort auch: Ja!

Denn auch Jugendliche müssen lernen, wie diese Welt wirklich ist und sein könnte. Und wir müssen ehrlich sein, solange wir niemals etwas verherrlichen!

  

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Kommentare: 1
  • #1

    Whiscy (Mittwoch, 09 Mai 2018 10:36)

    Toller Artikel!